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Klaus Höfler
Spektakulärer Arbeitsplatz: Steirer ist Juwelier am Zuckerhut
Alois Sailer hat Höhenangst. Nicht die beste Voraussetzung, wenn man jeden Tag mit der Seilbahn zur Arbeit fahren muss. Der Klettersteig, der als einzige Alternative die steilen Felswände hinauf angelegt ist, ist da auch keine Option. „Aber ich habe mich mittlerweile an den Schauder gewöhnt“, schmunzelt Sailer. Nur wenn er in der Früh ganz allein in der Gondel steht und in den Abgrund blickt, müsse er sich festhalten – „damit ich nicht ohnmächtig werde“.
Auch Alois Sailers potenziellen Kunden, die kurz nach ihm beginnen, die Seilbahn zu stürmen, bleibt bisweilen der Atem weg. Aber weniger aufgrund einer sich anschleichenden Panikattacke, sondern aufgrund der fulminanten Aussicht, die man von oben genießen kann. Das Oben: Das Gipfelplateau des legendären „Pão de Açúcar“, des „Zuckerhuts“ in Rio de Janeiro. Das Unten: Die zerrissene Küstenlinie von Brasiliens zweitgrößter Stadt, mit den zahllosen Buchten, steilwandigen Bergkegeln, den engen Straßenschluchten der Stadtteile Botafogo und Flamengo, dem dichten Waldgürtel im Hinterland und vorne, am anbrandenden Meer, den goldgelb glänzenden, legendären Sandstränden wie Copacabana oder Ipanema. Und über allem thront wie ein überdimensionaler Wächter die Christus-Statue mit ausgebreiteten Armen und gütigem Blick.
Aus einem Praktikum wird ein ganzes Leben
Dieses Panorama hart an der Kitschgrenze könnte Sailer bei seinem täglichen Arbeitsweg genießen – wenn da nicht die Sache mit der Höhenangst wäre. Sie hat ihm in frühen Jahren schon einen Ferialjob verhagelt, als er als Student bei einer Firma arbeitete, die bei Kastner & Öhler in Graz den Lift installierte und wo er hoch oben am Dach die Seilwinde zu bedienen hatte. „Ich musste am zweiten Tag quittieren.“ Das ist mehr als 30 Jahre her.
Nach der Volksschule in Gleisdorf, der Hauptschule in Deutschfeistritz und einer Lehre als Büromaschinenmechaniker in Graz – den Ausbildungsbetrieb (Pauritsch) gibt es heute noch – absolvierte Sailer damals die Sozialpädagogische Akademie. Zudem war er bei den Pfadfindern engagiert, die damals ein Straßenkinder-Projekt in Brasilien unterstützten. Sailer fragte um die Möglichkeit eines Praktikums an. „Es war ursprünglich auf ein halbes Jahr angelegt“, erinnert er sich. „Wir haben alle auf dich gewartet, dass du wieder zurückkommst“, wird ihm eine Bekannte 25 Jahre später bei einem Besuch in Rio vorhalten. „Aber ich bin nicht mehr zurückgegangen“, sagt Sailer. Stattdessen reiste er mit dem Bruder quer durch Brasilien, lernte binnen sechs Monaten fließend Portugiesisch und eine Frau kennen, heiratete sie und gründete eine Familie. Der Sohn hat vor Kurzem seinen 27. Geburtstag gefeiert.
Weitere Schmuck-Filialen an außergewöhnlichen Orten
Draußen staut der Abendverkehr durch das enge Gassengeflecht nahe der Copacabana. Immer wieder heben sich nervöse Hupkonzerte aus der Lärmkulisse, dann und wann abgelöst vom gehörgangzersägenden Sirenengeheul von Polizei oder Ambulanz. Erst später gewinnen die Musik aus der Dachterrassenbar gegenüber und lautstarke Gehsteigdebatten von Obdachlosen die akustische Oberhand. Rio schläft nie. Gleich um die Ecke, neben dem „Copacabana Palace“ – erste Hoteladresse der Stadt – unterhält Sailers Arbeitgeber „Sauer“ sein Stammgeschäft.
Gegründet wurde das Unternehmen von einem jungen Niederländer, der vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aus Amsterdam mit dem Rad nach Lissabon floh, dort ein Schiff nach Buenos Aires bestieg, aber schon in Rio von Bord ging und sich hier als Juwelier und Schmuckhändler selbstständig machte. Heute betreibt er Filialen in São Paulo, bei den spektakulären Wasserfällen in Iguazú im Dreiländereck Brasilien-Argentinien-Paraguay, seit vergangenem November in New York – und in Rio an der Copacabana und eben am Zuckerhut. Dort oben, knapp 400 Meter über dem Meer, liegt zweifelsfrei einer der schönsten Arbeitsplätze in der Cidade Maravilhosa, der „wunderbaren Stadt“.
Vom Sozialakademiker zum Reiseleiter zum Juwelier
Alois Sailer bestreitet das gar nicht – „auch wenn es sehr touristisch ist“. Dass er dort im Jahr 2000 gelandet ist, sei „eine lustige G’schicht“ – Sailers Standardformulierung, wenn er aus seinem reichen Episodenschatz erzählt. Denn eigentlich hatte er in Rio als Reiseleiter begonnen. „Die Agentur hatte einen Vertrag mit dem Juwelier, um Gäste ins Geschäft zu lotsen.“ Bei einer Veranstaltung wurde er dann gefragt, ob ein Seitenwechsel für ihn vorstellbar sei. Er könne „morgen beginnen“. Zunächst überwogen die inneren Zweifel: „Verkäufer und Juwelier – das hat nichts mit mir zu tun“, dachte sich der Sozialakademiker – sagte dann aber doch zu. „Zunächst für ein Jahr. Gefallen hat es mir nicht wirklich“, blickt er auf diese Anfangszeit zurück: „Ich habe aber immer wieder verlängert.“
Neymar Jr. oder Arnold Schwarzenegger zu Besuch
Heute ist er einer der dienstältesten Mitarbeiter, überstand Kündigungswellen nach Corona und leitet die Filiale am Zuckerhut, bei der im Laufe der Jahre neben Gästen aus der ganzen Welt auch immer wieder internationale Stars wie Fußballer Neymar oder Hollywood-Ikone Sylvester Stallone beziehungsweise prominente Landsleute wie Arnold Schwarzenegger oder Richard Lugner zu Besuch waren. Umgekehrt hat es Sailer selbst nicht mehr zurück in die Heimat gezogen. Die nie sehr engen familiären Bindungen sind über die Jahre noch loser geworden, das letzte Mal in der Steiermark war der heute 55-Jährige 2004. „Aber die Nachrichten über das Hochwasser vergangenes Jahr in Deutschfeistritz habe ich online im ORF mitbekommen und im Bericht zufällig meinen Bruder gesehen und ihn am nächsten Tag angerufen.“
Träume, Lockerheit und ein unerwarteter Rückschlag
„Ich habe nie so richtig gewusst, was ich wollte, und mich immer etwas treiben lassen. Deshalb habe ich mich wohl auch in Brasilien gefunden“, sinniert Sailer. Dass es ausgerechnet Rio wurde, ist demzufolge auch kein Zufall: „Weil hier alles so locker ist.“ Ob beispielsweise eine Rechnung morgen, in Raten, mit geborgtem Geld, später einmal oder überhaupt nicht bezahlt wird: Man folge in diesem Fall und dem gesamten Alltag dem Motto „Irgendwie wird es schon gehen“. Hier mache, so Sailer, „jeder, was er will. Jeder fühlt sich ein bisschen schlauer und will einen hinters Licht führen.“ Anders sei dagegen São Paulo getaktet, vergleicht er: „Das sind zwei verschiedene Welten.“ Dort laufe der Alltag professioneller und besser organisiert ab.
In der 6,7-Millionen-Metropole Rio gebe es dagegen niemanden, der keine Erfahrung mit Überfällen gemacht hat, glaubt Sailer. Die Gewalt gehört zum Alltag. „Man lebt damit, es wird irgendwann normal“, sagt der Wahlbrasilianer mit österreichischem Pass. Er selbst sei diesbezüglich zwar angstbefreit und „relativ locker“, treffe aber dennoch entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. „Man braucht gewisse Gewohnheiten, um umsichtiger und vorsichtiger zu sein“, so Sailer. So habe er immer ein zweites, altes Handy mit dabei, das im Fall eines Überfalls „geopfert“ werde, auf Busfahrten nach zehn Uhr abends verzichte er. Ein Verhalten, das auch einem Zwischenfall während der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien 2014 geschuldet ist. In der ersten WM-Woche wurde Sailer damals überfallen. „Mein Fehler war, dass ich mich gewehrt habe.“ Er stolperte, stürzte und zog sich einen komplizierten Drehbruch des Schien- und Wadenbeins zu. Während der mehrstündigen Operation wachte er dann auch noch auf. „Ich habe die Bohrmaschine gehört und den Geruch von verbranntem Holz wahrgenommen.“ Statt eines florierenden WM-Geschäfts am Zuckerhut wurden es Krücken und fünf Monate Krankenstand. Die Schrauben und Platten, die damals zur Fixierung der Knochen transplantiert wurden, stecken immer noch in Sailers Bein.


